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RU: Aids zu lange ignoriert

Blond38

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DIE ZEIT: »Begrabt eure Kinder doch gleich«

Lange hat Russland das Aids-Virus ignoriert. Jetzt droht die Epidemie außer Kontrolle zu geraten.

Von Johannes Voswinkel

Es ist dieser eine Satz. Ludmila Borissenko kann ihn nicht vergessen, und deshalb gibt es den Klub in Saratow: »Begrabt eure Kinder doch gleich.« Das hat der Arzt vor 16 Jahren zu ihr gesagt, als sie um Hilfe für ihren heroinsüchtigen Sohn bat. Aus Verzweiflung gründete sie mit anderen betroffenen Eltern einen Selbsthilfeverein.

»Wir wollten unsere Kinder retten«, sagt sie. Heute hat ihr Sohn Ilja seine Sucht bezwungen, und auch er arbeitet mit im Klub Megapolis. 33 Jahre ist er alt, davon sind »11 Jahre Dienstzeit« als Süchtiger. Damals, Anfang der neunziger Jahre, wurde Heroin in Russland zur Mode. »Unser Motto hieß: Was soll's?«, erzählt Ilja. »Ich habe gedrückt, bis mir das Leben mit dem Asphalt gegen das Gesicht schlug.« Die Nadel hat er sich mit einem HIV-Infizierten geteilt. Er habe sich nicht infiziert, sagen Ilja und seine Mutter. Großes Glück, wenn es stimmt.

Im Kellersaal des Klubs, zwischen Spiegelwänden und unter rankendem Kunstefeu, hängen Anti-Aids-Collagen neben dem Text der russischen Nationalhymne und einem Schild mit Verhaltensregeln: »Interessiere dich aufrichtig für andere Menschen!« Ausländische Sponsoren unterstützen den Jugendklub, Psychologinnen arbeiten mit Theater, Rollenspiel und Discoabend. Die weich gesessenen Sofas wurden von zu Hause angeschleppt.

In einer Kammer hängen Zaubererzylinder zwischen selbst genähten Kostümen. »Wir machen indirekte Prävention«, sagt Ludmila, »indem wir die Kinder von Schlimmerem abhalten.« Aids-Broschüren, Gratiscoupons für Gesundheitstests und auch mal ein paar Kondome für die Prostituierten des Viertels verteilen sie abends auf dem Strich. Ihre Jugendlichen rufen zum Abschied im Chor: »Wir sind gesund, das ist unsere Macht!« Dann klettern sie die Treppe zum Hof hoch, zu den Sperrmüllhaufen und angerosteten Garagen vor der Mauer der Textilfabrik. »Bis heute gibt es keinen anderen solchen Klub in Saratow«, sagt Ludmila. Ihr Stolz klingt traurig.

In Russland lodert laut dem neuen Aids-Bericht der Vereinten Nationen die größte Aids-Epidemie in Europa. 350000 HIV-Infizierte sind offiziell registriert, doch sogar die staatlichen Experten schätzen die wahre Zahl auf bis zu 1,5Millionen – gut ein Prozent der Bevölkerung. Jenseits dieses Schwellenwertes, betonen Epidemiologen, droht eine unkontrollierbare Ausbreitung der Krankheit. Sie erinnern an Südafrika, wo die Infiziertenrate nach 1991 innerhalb von acht Jahren von 1 auf 25 Prozent schnellte.
HIV trifft vor allem junge Russen. In manchen Städten sind sieben Prozent der jungen Männer infiziert. Bis vor kurzem bekam gerade jeder zwanzigste Infizierte antiretrovirale Medikamente, um den Ausbruch der Krankheit aufzuschieben. Von den Randgruppen der intravenösen Drogennutzer, Prostituierten und Homosexuellen dringt HIV seit ein paar Jahren mitten in die Gesellschaft vor. Aufklärung und Vorsorge fehlen. Auch die Ansteckungsrate für Syphilis liegt zehnmal höher als in westlichen Ländern.

In Saratow an der kilometerbreiten Wolga kommt vom Reichtum der russischen Öleinnahmen wenig an. Ein paar knallbunte Tankstellen und Einkaufszentren verlieren sich zwischen schiefen Holzhäusern. Klebezettel an den Laternenmasten suchen »Mädchen für billige Arbeit«, andere daneben bieten sie zur »Freizeitgestaltung« an. Saratow ist ein Kreuzungspunkt zwischen Europa und Zentralasien, und der Schuss Heroin kostet wenig, um 20 Euro. In der HIV-Infektions-Statistik der 88 russischen Regionen steht Saratow auf Platz 14. Die Zahl der Neuinfektionen steigt. Im vergangenen Jahrzehnt wurde das HIV-Virus in Saratow noch in mehr als 90 Prozent der Fälle mit der Drogenspritze übertragen. Jetzt stecken sich zwei Drittel auf sexuellem Weg an.

Oft sind es junge Frauen, die sozial eingebunden leben. Meist wird die Ansteckung während der Schwangerschaftsuntersuchungen entdeckt. Die Zahl infizierter Schwangerer hat sich in den vergangenen fünf Jahren verzehnfacht. Wenn sie rechtzeitig mit antiretroviraler Prophylaxe behandelt werden, sinkt die Gefahr einer Infektion des Kindes auf fünf Prozent. Aber nur jede siebte Schwangere erhält die Medikamente.

Die Aids-Epidemie schwappt weit über die Grenzen des Landes. Millionen von Gastarbeitern aus Zentralasien kehren aus Russland in ihre Heimat zurück. Russische Drogensüchtige haben die HIV-Infektionsrate in Skandinavien und dem Baltikum in die Höhe getrieben. Laut einer Studie ist allein in der Touristenmetropole St. Petersburg jede dritte Prostituierte unter 19 Jahren HIV-positiv. Der Frauenhandel trägt die Erreger durch die Welt. Frankfurt am Main, erzählt Urban Weber, Teamchef des Global Fund für Osteuropa, sucht russischsprachige Sozialarbeiter. »Wenn Sie dort in ein Bordell gehen, finden Sie viele russische Mädchen«, sagt er.

Auf Betreiben von UN-Generalsekretär Kofi Annan wurde der Global Fund zum Kampf gegen die drei verheerendsten Krankheiten der Welt gegründet: Aids, Tuberkulose und Malaria. 333 Millionen Dollar fließen nach Russland für Projekte, die sich als Katalysator einer nationalen Antwort von Regierung und Zivilgesellschaft verstehen. Als ersten Erfolg verzeichnet der Global Fund, dass die russische Regierung ihren Haushaltsposten für die Aids-Bekämpfung auf knapp 3 Millionen Euro verzwanzigfacht hat. Zudem ist es gelungen, die Preise für antiretrovirale Medikamente von 9000 auf weniger als 1500 Dollar pro Patient und Jahr herunterzuhandeln. Erste kleine Erfolge im Boomland Russland, das sich bisher wenig um die Randständigen und Kranken kümmerte.

Timur ist einer von ihnen. Der 25-Jährige sitzt wegen Raub im Gefängnis von Engels an der Wolga ein, der Besserungskolonie Nr. 2. Mehr als 200 der 1750 Häftlinge sind wie Timur als Drogensüchtige registriert, aber eine Therapie gibt es nicht. Timurs Abteilung besteht nur aus HIV-Infizierten. Er ist froh darüber. »Ich möchte nicht jeden Tag bemitleidet werden«, sagt er. Zehn Minuten darf er zum Interview in schwarzer Häftlingskleidung antreten. Die Aufseher rundherum spitzen die Ohren, denn jeder Besucher soll die Vorzeigehaftanstalt, die dank der Hilfe des Global Fund mit dem städtischen Aids-Zentrum zusammenarbeitet, nur mit dem bestmöglichen Eindruck verlassen.

Deshalb mischt sich bei der Frage, ob saubere Spritzen und Kondome im Gefängnis zugänglich seien, die zuständige Direktorin der medizinischen Abteilung der Strafvollzugsbehörde ein. »Die HIV-Positiven kennen doch das russische Gesetz. Dementsprechend verursachen sie keine Ansteckung«, versichert sie entschieden. Timur schweigt dazu, er hofft auf seine vorzeitige Entlassung in zwei Jahren.

Die Gefängnisbeamten müssen den Besuch von Hilfsorganisationen dulden – manche wider Willen –, weil die Moskauer Strafvollzugsbehörde schon in den neunziger Jahren ausländische Gesundheitshilfe zugelassen hat. »Das Justizministerium wusste nicht, was es ohne uns machen sollte«, sagt die Mitarbeiterin einer Nichtregierungsorganisation. Aids und vor allem Tuberkulose, die Haupttodesursache für Aids-Kranke, grassierten in den Gefängnissen. Für Medikamente fand der Staat kein Geld. Anfangs wurden HIV-Infizierte wie Pestkranke isoliert. Dank des Einsatzes westlicher Organisationen hat Aids-Aufklärung mittlerweile in der Weiterbildung der Strafvollzugsbehörde ihren Platz gefunden.

Dennoch sieht es in vielen Gefängnissen weit schlechter aus als in der Besserungskolonie Nr. 2. Der Menschenrechtler Walerij Borschtschow, der als Vorsitzender des Gesellschaftsrats des Justizministeriums Gefängnisse inspiziert, hat in einer Anstalt bei Smolensk isolierte HIV-Infizierte entdeckt. Sie mussten mit zwei statt der vorgeschriebenen vier Quadratmeter Zelle auskommen. Statt ihrer Milch- und Fleischration bekamen sie höchstens ein paar Sprotten. Medikamente gab es nicht. »Der Chef der Krankenstation war ihr größter Feind«, erzählt Borschtschow. »Er hat sogar die zahnärztliche Behandlung abgelehnt mit den Worten: Kommt mit einem Bohrer und Plastikhandschuhen wieder!« Borschtschow schrieb empörte Berichte. Der Chef der Krankenstation wurde entlassen.

Denn Russlands Staatsführung hat vor dem G8-Gipfel im Juli in St. Petersburg, der sich dem Kampf gegen Infektionskrankheiten widmen wird, die Brisanz der Aids-Epidemie im eigenen Land entdeckt. Vor gut einem Monat warnte Präsident Wladimir Putin im Staatsrat vor der Bedrohung. Doch viel hängt davon ab, ob er sich nach dem G8-Gipfel stärker gegen Aids engagiert. Erst vor zwei Monaten hatte sich das Moskauer Stadtparlament mit der Bitte an Putin gewandt, restriktiv gegen ausländische Anti-Aids-Organisationen vorzugehen, die »zu Pädophilie, Prostitution und dem Gebrauch von Drogen unter Teenagern ermutigen«.

Die kommunistische Fraktion bezeichnete Kondome gar als »nationales Sicherheitsrisiko«. Immerhin macht sich ein Umdenken innerhalb der russischen Gesellschaft bemerkbar. Aids ist aus der Ecke der Tabuthemen ausgebrochen. Mit der Wahl einer Schönheitskönigin unter HIV-Infizierten zur »Miss Positiv« versuchten Anti-Aids-Organisationen im vergangenen Dezember erstmals, das gesellschaftliche Stigma in Lebensfreude umzukehren.

Das sibirische Tomsk ist eine Stadt der Hoffnung in Russland. Jeder siebte Bewohner ist hier Student. Die lokalen Anti-Aids-Organisationen loben das vergleichsweise tolerante Klima, das sogar die vielerorts verbotene Spritzenausgabe für Drogensüchtige ermöglicht. Doch noch versteckt die Organisation Sibirien-Aids-Hilfe ihr Homosexuellenprojekt vor der Öffentlichkeit lieber hinter der gesellschaftsverträglicheren Schulaufklärung gemeinsam mit Lehrern. Die Aktivisten sind fast alle Anfang 20, manche selbst homosexuell, andere begeistert vom sozialen Engagement.

Die Organisation lebt zu 90 Prozent von westlichen Sponsorengeldern. Die Miete im ehemaligen Sportklub zahlt die Stadt. Tomsker Geschäftsleute spenden höchstens mal Mineralwasser oder eine Runde Eiskrem, denn die Aufklärungshilfe für Menschen mit »nichttraditioneller sexueller Orientierung« schädigt eher das Prestige und wäre keine Werbung fürs Geschäft. »Wenn russische Journalisten über uns berichten«, erzählt der Leiter Andrej Bjeloglasow, »suchen sie nach schmutziger Bettwäsche und schreiben als Resümee unserer Seminare zur Homosexualität, das Geld hätte man besser für Pensionäre ausgeben sollen.«

Abends besuchen die Aktivisten Schwulenpartys und verteilen Kondome. »Das Wissen über Aids ist beträchtlich gewachsen«, sagt Bjeloglasow, »doch das Verhalten verändert sich nur langsam. Viele haben noch immer Angst vor dem Händedruck eines Infizierten.« Immerhin bläst nicht mehr wie früher die Hälfte der Partygäste das Präservativ aus Spaß zum Luftballon auf. Aber vielen gelten Kondome noch immer als unmännlich, potenzbedrohend oder zu teuer. In den Taigadörfern Hunderte von Kilometern von Tomsk entfernt kosten qualitativ gute Kondome, wenn es sie gibt, so viel wie eine Schachtel Zigaretten oder ein Bier. »Wenn die Jungs am Kiosk vor der Wahl stehen«, sagt Bjeloglasow, »greifen sie lieber zur Flasche.«
 
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