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Die Methode FSB

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DIE ZEIT: Die Methode FSB

Der Rechtsanwalt Boris Kusnezow war in Russland ein Star. Bis er den Geheimdienst herausforderte. Nun ist er auf der Flucht

Von Christian Heinz*

Wir sitzen in einem Café irgendwo in Berlin und trinken Tee. Gemessen an seinem Status sieht er eigentlich etwas ungewöhnlich aus. Kein Nadelstreifenanzug, keine teuere Aktentasche, kein Chauffeur, der draußen mit einer Limousine auf ihn wartet. Der grauhaarige bärtige Mittsechziger, der eine Zigarette nach der anderen raucht, trägt Jeans und ein etwas verschmutztes Armani-T-Shirt, kam mit der U-Bahn. Fahrten durch Berlin mit öffentlichen Verkehrsmitteln sind für ihn jedes Mal ein Abenteuer. Er kennt die Stadt nicht, kann kein Deutsch, nur ein paar Brocken Englisch.

Noch vor wenigen Wochen lebte er in einer Nobelsiedlung bei Moskau in einer Millionenvilla, die er, ein Schiffsnarr, in Form einer alten Fregatte bauen ließ – mit einem hohen Mast, echten Segeln, Strickleitern und sogar schusstauglichen Bordkanonen. Das Schiff mitten im Wald beherbergt kostbare Antiquitäten, eine riesige Bibliothek und museumswürdige Sammlung historischer Waffen. Der Hausherr zeigte es gerne seinen zahlreichen Gästen, der Moskauer Elite, die ihn besuchte.

Nun wohnt er in Berlin in einem Plattenbau, einer winzigen, einigermaßen eingerichteten Wohnung, die ihm ein Bekannter zur Verfügung gestellt hat. Die Frage nach seiner genauen Adresse und der Zeit, die er noch in Berlin verbringen will, wäre unangebracht. Er ist auf der Flucht. Die ersten Tage in Deutschland, erzählt er, hat er sich zwei Bodyguards genommen. Auch wenn er es herunterspielt, sitzt in ihm eine tiefe Angst, zumindest große Vorsicht. Es ist nicht auszuschließen, dass der russische Geheimdienst hinter ihm her ist. Und diesen Leuten kann man alles zutrauen. Wenn sie einen Litwinenko umgebracht haben, der sich mit ihnen angelegt hat, warum können sie nicht auch ihn beseitigen? Er habe ebenso wie Litwinenko den FSB herausgefordert, versucht, die allmächtige Behörde in die Schranken zu weisen. Mehr noch, er habe kompromittierende Unterlagen über seine schmutzigen Praktiken herausgeschmuggelt. Vielleicht ist sein Laptop ihnen noch wichtiger als er selbst.

Aber um ihn zu schnappen, müssen sie erst mal seinen Aufenthaltsort herausfinden. Keine einfache Aufgabe. „Wo stecken Sie denn?“, fragte ihn ein Untersuchungsführer, als er bei der Generalstaatsanwaltschaft anrief, um mitzuteilen, dass er unmöglich zum Verhör erscheinen kann. „In Eurasien“, antwortete er und nannte die Telefonnummer seiner in Paris lebenden Tochter für den Fall, dass der Mann ihm eine Nachricht hinterlassen wollte.

Dass „Eurasien“ Berlin ist, wissen nur seine engsten Vertrauten. Ihnen gibt er auch die Nummer seines deutschen Prepaid-Handys, das auf weiß Gott wessen Namen registriert ist. Aber so sind seine Telefonate abhörsicher. Diejenigen in Russland, die mit ihm etwas Diskretes besprechen wollen, benutzen weder das Festnetz noch den russischen Mobilfunk. Sie rufen ihn über das Funknetz eines westlichen Anbieters an. Die Wahrscheinlichkeit, dass der FSB darauf Zugriff hat, ist gering.

Seine E-Mails fragt er in Internetcafés ab. Nicht zu Hause. In Berlin hat er sich bei einem deutschen kostenlosen Provider eine neue – deutsche – E-Mail-Adresse angelegt, die ebenfalls nur seine engsten Freunde kennen. Als ehemaliger Kriminalkommissar mit 20 Jahren Berufserfahrung kann er ziemlich schnell feststellen, ob er beschattet wird oder nicht. Werden wir jetzt im Café observiert? Nein, ihm fällt nichts Verdächtiges auf, obwohl es heutzutage in Berlin mehr russische Spione gibt als zu Zeiten des Kalten Krieges. In Moskau, als sie ihn festnehmen wollten, gelang es ihm, sie zu überlisten.

Wie? Es ist sein Geheimnis, aber okay, er erzählt es. Er saß in seiner Villa und bestellte zu sich ein Auto nach dem anderen, die er dann gleich wieder wegfahren ließ, unter ihnen auch sein eigenes. Ein regelrechtes Autokarussell! Es war stockdunkel, man konnte nicht sehen, wer in den wegfahrenden Autos saß. Die Beschatter meinten, in einem dieser Autos sei er abgehauen und verfolgten eine falsche Fährte. Als die Luft rein war, stieg er in einen Reservewagen, der am Hintereingang geparkt war, und fuhr unbemerkt los. Richtung der ukrainischen Grenze, an der die Kontrollen verglichen mit denen am Moskauer Flughafen Scheremetjewo noch ziemlich lasch sind. Erst auf dem ukrainischen Boden konnte er aufatmen. Von Kiew kam er nach Deutschland, wo er viele Freunde hat, darunter reiche Russen, denen er schon mal aus der Patsche geholfen hat. Jetzt sind sie dran, ihm zu helfen. Und das tun sie auch.

Ist es gefährlich, ihm auf seiner Flucht zu helfen und überhaupt in seiner Nähe zu sein? Wohl nur für Unternehmer, die in Russland Geschäfte machen, sagt er. Als Rache riskieren sie Probleme mit den Finanzbehörden und können um ihr Geschäft gebracht werden. Für normale Menschen sei ein Kontakt mit ihm ungefährlich. Was heißt ein normaler Mensch? Der keinen roten Heller hat und zu Putin völlig loyal ist? Bedeutet aber eine Sympathie für ihn, quasi einen Staatsfeind, Ausgestoßenen, nicht automatisch ein Zeichen der Illoyalität gegenüber Putin mit allen daraus resultierenden Konsequenzen?

Die Nachricht, dass der Staranwalt Boris Kusnezow aus Russland geflüchtet ist, schlug in den russischen Medien wie eine Bombe ein. Ein weiterer prominenter politischer Flüchtling innerhalb von wenigen Monaten, der die Emigration dem Schicksal eines inhaftierten Chodorkowski oder einer ermordeten Politkowskaja vorzog. Die Geschichten sprechen für sich.
Der Direktor des Moskauer Zentrums für strategische Forschungen, einer der heftigsten Kritiker Putins in den demokratischen Reihen Andrej Piontkowski setzte sich ins Ausland ab, als die Staatsanwaltschaft sein Buch mit dem beredten Titel Ungeliebtes Land für „extremistisch“ befand und gegen ihn einen Strafprozess anstrengte. Die Journalistin Elena Tregubowa, Autorin eines Bestsellers über die Sitten im Kreml unter Putin, floh nach London, nachdem sie knapp einem Attentat entgangen war.

Aus Angst vor dem langen Arm des FSB wohnt sie in der britischen Hauptstadt in der absoluten Anonymität. Der seit Kurzem in Paris lebenden Menschenrechtlerin Manana Aslamasjan, Leiterin der aus dem Westen finanzierten unabhängigen Stiftung Internews, wurde ein unbedeutender Vorfall zum Verhängnis. Bei der Einreise nach Russland wurde sie mit ein paar Euro mehr in der Tasche als erlaubt erwischt. Eine Ordnungswidrigkeit, die normalerweise höchstens mit einer Geldbuße geahndet wird. Aber die Staatsanwaltschaft hängte Aslamasjan einen Strafprozess an, der mit Haft enden konnte. Ihre Bitte, die Gerichtsverhandlung in ihrer Abwesenheit abzuhalten, lehnte die Staatsanwaltschaft ab und verlangte ihr persönliches Erscheinen vor Gericht. Nach Aslamasjans Flucht wurde Internews von der Polizei durchsucht und geschlossen.

Aber Boris Kusnezow, einer der teuersten Anwälte Russlands, dessen Dienste gerne von Millionären und Prominenten in Anspruch genommen werden, ist ein besonderer Fall. Er stellte sich nie in Opposition zu Putins Regime, stand auf vertrautem Fuß mit Ministern und Gouverneuren und wusste besser als jeder andere, was strafbar und was legitim ist. Schließlich war das sein Job. Doch genau sein Glaube an das Gesetz und die neue russische Rechtstaatlichkeit erwies sich für ihn als fatal.
Boris Kusnezow wurde des Verrats von Staatsgeheimnis beschuldigt: ein schweres Delikt, auf welches in Russland bis zu vier Jahren Haft stehen.

Passiert ist Folgendes:

Vor einiger Zeit übernahm Kusnezow den Fall eines korrupten Föderationsratsabgeordneten, der wegen Betrug in Millionenhöhe verhaftet wurde. Die Beweise gegen den Senator waren erdrückend. Als Anwalt suchte Kusnezow nach mildernden Umständen für den Angeklagten und Schwachpunkten in der Anklage. Und die fand er. Beim Studieren der Ermittlungsakte stieß er auf ein brisantes Papier mit dem Vermerk „geheim“. Es waren Abhörprotokolle von Telefonaten, die der Senator mit seinen Komplizen und Betrugsopfern führte. Der FSB belauschte ihn, obwohl der Politiker, zum Zeitpunkt der Abhöraktion noch im Amt, Immunität genoss. Für den Verteidigungsprofi war dieser Umstand von entscheidender Bedeutung.

„Laut Verfassung kann die Immunität eines Abgeordneten nur durch das jeweilige Parlament aufgehoben werden“, sagt Kusnezow. „Solange dies noch nicht der Fall ist, bleiben seine Wohnung, Arbeitsbüro und insbesondere Nachrichtenmittel, also das Telefon, das Internet, der Briefwechsel, unantastbar. Der FSB hatte kein Recht, den Senator abzuhören, mochte er noch so schuldig sein. Und Belastungsbeweise, die rechtswidrig gewonnen worden sind, dürfen nicht vor Gericht geltend gemacht werden. Gesetz ist Gesetz“.

Kusnezow fotografierte die Abhörprotokolle ab und legte das Foto seiner Klage gegen die illegalen Ermittlungsmethoden des FSB bei, die er beim Verfassungsgericht einreichte. Mehr noch: Er verlangte, diejenigen FSB-Offiziere zur Rechenschaft zu ziehen, die den Senator ungesetzlich belauschten. Ein folgeschwerer Schritt. Der Geheimdienst drehte den Spieß um und beschuldigte Kusnezow prompt der Verletzung des Staatsgeheimnisses. Das als geheim gekennzeichnete Papier durfte nicht an Personen gelangen, die nicht als Geheimnisträger eingestuft sind, und Verfassungsrichter, jedenfalls Mitarbeiter ihres Apparats, sind es nicht.
Dieser Logik kann Kusnezow nicht folgen. „Illegales Abhören ist eine Menschenrechtsverletzung, und laut Gesetz kann Menschenrechtsverletzung nicht als Staatsgeheimnis gelten“.
Im Verfassungsgericht arbeiten auch nur Menschen. Und sie standen vor einem Dilemma, das mit der Rechtsprechung wenig zu tun hatte: auf der einen Waagschale ein bereits verhafteter korrupter Politiker und sein paragrafenhafter Anwalt, auf der anderen der FSB, fast schon genauso allmächtig wie sein Vorgänger KGB.

Das Verfassungsgericht wies Kusnezows Klage ab, was indirekt die Anerkennung seiner Schuld bedeutete. Wie es eine Moskauer Zeitung nannte: „Das Verfassungsgericht lieferte den Anwalt an die Tschekisten“. In der Tat: Kurz darauf stellte der FSB bei der Generalstaatsanwaltschaft einen Antrag auf Einleitung eines Strafverfahrens gegen Kusnezow. Als er merkte, dass er bespitzelt wurde, wurde ihm klar, dass er jeden Augenblick verhaftet werden konnte. Es lag weniger an der Relevanz des von ihm angeblich ausgeplauderten Staatsgeheimnisses – sie war gleich null –, wohl aber an seiner Person, daran, dass er sich erdreistet hat, sich dem FSB in den Weg zu stellen.

„Von einer wirksamen politischen Opposition kann heute in Russland keine Rede sein“, sagt Kusnezow. „Rechtsanwälte sind wohl noch die einzige Kraft, die in der Praxis der Willkür der Behörden trotzt. Und deshalb werden sie immer häufiger von der Staatsmacht verfolgt, eingeschüchtert und sonstwie mundtot gemacht“.

Genau nach demselben Paragrafen – Verletzung des Staatsgeheimnisses – wurde 2004 der Anwalt und ehemalige FSB-Offizier Michail Trepaschkin zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Eine Rache dafür, dass er dem FSB Korruption und andere kriminelle Geschäfte vorwarf. Auf eine ähnliche, nicht gerade elegante, Weise wurde Teimuras Tschedshemow, Anwalt der „Mütter von Beslan“, ausgeschaltet. Im Prozess um das Geiseldrama in der nordossetischen Stadt machte er die russischen Spezialkräfte wegen der chaotischen Befreiungsaktion für den Tod von 331 Menschen mitverantwortlich. Nach wiederholten Morddrohungen legte er aus Angst um sein Leben sein Mandat nieder.

„In Russland gibt es sehr kompetente Kriminalisten, Staatsanwälte, Richter, und viele normale Straf- und Zivilprozesse werden aus juristischer Sicht völlig korrekt durchgeführt“, sagt Kusnezow. „Aber Fälle, die ein großes Aufsehen in der Gesellschaft erregen, wie etwa die von Yukos oder der ‚Kursk’, werden nicht von Juristen, sondern vom Kreml entschieden“.
Das weiß Boris Kusnezow aus der eigenen Erfahrung. Im Fall des Mitte August 2000 in der Barentssee gesunkenen Atom-U-Bootes „Kursk“, das zum Grab für alle 118 Besatzungsmitglieder wurde, vertrat er die Interessen von 55 Familien der Hinterbliebenen. In der Klage seiner Mandanten gegen das Oberkommando der Marine ging es nicht um eine materielle Entschädigung – mit ihrer Höhe waren die Hinterbliebenen einverstanden –, sondern die vollständige Aufklärung der Katastrophe.

„Der Untergang der ‚Kursk’ wurde sehr professionell untersucht“, erzählt Kusnezow, der als Anwalt einen nahezu uneingeschränkten Zugang zu den Akten hatte. „Die Ermittler kamen zu dem Schluss, dass eine Reihe der Generäle der Nordmeerflotte zur Verantwortung gezogen werden sollten. Aber Putin fasste einen politischen Beschluss, niemandem einen Strafprozess zu machen und die Katastrophe auf einen technischen Defekt abzuwälzen. Und so wurde ein Lügengebäude aufgebaut, vor allem um den katastrophalen Zustand bei der russischen Marine zu vertuschen. Indes handelt es sich hier um eine zum Himmel schreiende Schlamperei und Inkompetenz auf mehreren Ebenen, angefangen bei den Konstruktionsfehlern des U-Bootes über die Organisation des Manövers in der Barentssee bis hin zur Rettungsaktion. Laut offizieller Version waren alle Besatzungsmitglieder spätestens acht Stunden nach der Explosion im Schiffsinneren bereits tot. In Wirklichkeit lebten 23 Matrosen in der neunten Abteilung noch zweieinhalb Tage. Und es wurden praktisch keine Maßnahmen getroffen, um sie zu retten. Das ist ein Verbrechen, und die Verantwortlichen müssen dafür bestraft werden.“

Kusnezows Klage wurde von Gerichten aller Instanzen zurückgewiesen, aber er ließ nicht locker. Er unternahm von sich aus eine weitere Untersuchung und rief das Europäische Gericht in Straßburg an, sodass der Fall zum internationalen Politikum wurde. Das russische Verteidigungsministerium warf ihm vor, er nütze die Tragödie für eigene PR-Zwecke aus.

„Eines Tages besuchten mich zu Hause zwei wichtige Herren – der Oberbefehlshaber der Flotte und der Chef der Militärstaatsanwaltschaft“, erinnert sich Kusnezow. „Sie machten mir ein verlockendes Angebot: Wenn ich den Fall ‚Kursk’ zu den Akten lege, werden sie mich als Anwalt der Marine beschäftigen, und wirtschaftlich gesehen ist die Marine ein milliardenschweres Unternehmen. Allein bei dem Verkauf und der Verschrottung von Kriegschiffen fließen Millionen Euro. Ich antwortete, dass ich diese Aufgabe gern annehmen würde, aber erst, nachdem ich mit der ‚Kursk’ fertig bin. Daraufhin wurde mir angedeutet, falls ich nicht stillhalte, könnte ich Probleme bekommen.“

Sein 2005 erschienenes Buch über die „Kursk“ mit dem Titel ,Sie ist gesunken’... Die Wahrheit, die der Generalstaatsanwalt Ustinow verheimlicht hat brachte Kusnezow mehr Ärger als Anerkennung. Der kleine neu gegründete Moskauer Verlag „De Facto“, der wagte, das Buch herauszubringen, erhielt einen Polizeibesuch. Polizisten wollten wissen, ob der Verlag ordnungsgemäß registriert ist. Es kostete Kusnezow viel Kraft und Schläue, die gedruckte Auflage vor Konfiszierung zu retten und auszuliefern. Damit hat er sich noch mehr Feinde im Kreml, im Verteidigungsministerium und bei den Justizorganen gemacht.

Er zählte sich zu den Siegertypen, aber irgendwann verkannte er den veränderten Geist der Zeit. Kusnezow lebte nach wie vor mit den Vorstellungen aus der Gorbatschow-Jelzin-Ära mit ihrer uneingeschränkten Meinungsfreiheit, während längst das Putin, sprich, das FSB-Regime, herrschte. Wehe dem in Russland, der sich politisch nicht anpassen kann.
Von der Politik hat Kusnezow wenig Ahnung, obwohl er seinen Aufstieg gerade der Politik verdankt. Drehen wir das Zeitrad um 20 Jahre zurück. Als ehemaliger Polizeikommissar, der zum Rechtsanwalt umsattelte, lernt Kusnezow während der Perestrojka durch Zufall die führenden Köpfe der entstehenden demokratischen Opposition kennen und schließt sich den Demokraten an. Für sie bearbeitet er wichtige Fälle, verteidigt unter anderem den abtrünnigen KGB-General Oleg Kalugin in einem einmaligen Prozess gegen den sowjetischen Parteichef Michail Gorbatschow. Er gewinnt den Prozess. Als die Demokraten 1991 nach dem Augustputsch überraschend an die Macht kommen, hat Kusnezow einflussreiche Freunde im Kreml. Im schlagartig eingeführten Kapitalismus erweisen sich solche Beziehungen im wahrsten Sinne des Wortes als Gold wert.

„Boris Kusnezow gehört zur kleinen, aber wachsenden Gruppe russischer Anwälte, die von multinationalen Konzernen gern für Aufgaben herangezogen werden, die über die ‚Flexibilität’ westlicher Rechtsberater hinausgehen“, schreibt Anfang der Neunziger ein deutsches Wirtschaftsblatt. „Vor einiger Zeit unterzeichnete Präsident Boris Jelzin ein Dekret, das ausländischen Firmen, die mehr als 100 Mio. $ in Russland investieren, umfassende Privilegien einräumt. In Unternehmenskreisen wird es scherzhaft als ‚Mars’-Gesetz tituliert, weil sich der US-Konzern Mars massiv dafür einsetzte. Allerdings wären auch die hartnäckigsten Lobbying-Bemühungen des Unternehmens ohne Mithilfe des Moskauer Staranwalts Boris Kusnezow erfolglos geblieben. Kusnezow wird seit 1989 von Jelzin immer wieder als Berater herangezogen und hat allerbeste Kontakte zur politisch-administrativen Elite. Er verfasste den ersten Entwurf des Mars-Gesetzes höchstpersönlich und sorgte dafür, dass es die verschlungenen Pfade des präsidialen Apparats sicher passierte“.

1000 Dollar pro Stunde berechnet Kusnezow westlichen, später auch russischen Konzernen, die seine Dienste in Anspruch nehmen. Aus einem Ein-Mann-Büro entwickelt sich seine Kanzlei zu einer der mächtigsten juristischen Firmen Russlands. Aber Fälle von Beamten und Militärs, darunter sehr hochrangiger, die auch bei ihm oft anklopfen, bearbeitet Kusnezow umsonst. „Um meine Arbeit bezahlen zu können, müsste ein Beamter sich bestechen lassen oder den Fiskus plündern. Dazu will ich die Leute nicht verleiten“, gesteht er in einem Interview. Er schreckt vor keinem Fall zurück, möge der Prozessgegner noch so stark sein, und gewinnt - gleichsam ein anwältischer Mike Tyson - einen Kampf nach dem anderen. Im Fernsehen und in den Zeitungen ist Kusnezow ein gefragter Interviewpartner, Lifestyle-Magazine berichten oft über seine extravagante Villa und seine Ehe mit einer der schönsten Frau Russlands, feiern ihn als Star der High-Society-Szene.

Neue Zeiten – neue Mandanten. Mit Beginn der Ära Putin gehören auch Menschenrechtler zu seiner Klientel wie etwa die bereits erwähnte Manana Aslamasjan. Auch die Familie der ermordeten Anna Politkowskaja wendet sich an Kusnezow mit der Bitte um Rechtshilfe bei der Ermittlung des Verbrechens.

Nun scheint all das in einem anderen Leben gewesen zu sein. Heute ist Kusnezow ein Flüchtling, der vor allem um seine eigenen Rechte kämpfen muss und nichts außer einem Laptop und einer Kreditkarte besitzt. Die Moskauer Rechtsanwaltskammer stellte sich hinter ihn. Ihr angesehener und medienpräsenter Präsident Genri Resnik erklärte, dass Kusnezow überhaupt kein Staatsgeheimnis verraten habe, seine Verfolgung sei ausschließlich „politischer Natur“, „eine Rache an einem unbequemen Anwalt und gleichzeitig eine Botschaft an alle russischen Anwälte“. Bewirkt hat diese lautstarke Erklärung gar nichts. Und wenn der beste und höchstbezahlte unschuldige Verteidiger Russlands sich selbst nicht verteidigen kann, womit kann dann ein normaler Bürger rechnen, der unter die Räder des Staates geraten ist?

„Meine Tätigkeit als Anwalt hat mit der Politik nichts zu tun, es ist die reine Juristerei“, sagt Kusnezow. „Während meiner Laufbahn vertrat ich die Interessen der russischen Regierung, ich verteidigte Staatsmänner, Geschäftsleute, Künstler, Banditen, Spione, Mörder, Gewalttäter – ein normaler Anwaltsjob. Aber wenn ich für meine berufliche Tätigkeit verfolgt werde, dann wird es politisch. Der Staat selbst macht aus mir einen politisch engagierten Kämpfer und lässt mich darüber tief nachdenken, was sich heute in Russland abspielt“.

Kusnezow spricht erbittert über die Rückkehr der Sowjetunion, die Errichtung eines FSB-Systems, Putins Marionetten im Gericht und die Atmosphäre der Angst, die jetzt ähnlich wie zu Stalins Zeiten wieder im Land herrscht. Eigentlich nichts Neues, obwohl wahr.
Ist es nicht ratsam in seiner Situation, sich persönlich direkt an Putin zu wenden? Vielleicht findet er beim Verfassungsgaranten ein williges Ohr?
„Wenn ich mein Verhalten bereue und verspreche, nie wieder die Staatsanwaltschaft und den Geheimdienst zu kritisieren, werden sie mir vielleicht verzeihen, dann darf ich nach Russland zurückkehren und wieder als Anwalt arbeiten. Aber dann bin ich kein Anwalt mehr, sondern nur noch ihre Marionette“, sagt Kusnezow und zieht an seiner Zigarette. Er überlegt einen Moment und fügt er hinzu: „Ich gehe nur zurück nach Russland, wenn die Ermittlungen wegen eines nicht existierenden Tatbestandes gegen mich eingestellt werden. Wenn nicht, dann sehe ich mich gezwungen, im Westen um politisches Asyl nachzusuchen.“

Wir trinken unseren Tee. Wie einst Litwinenko in einer Londoner Sushi-Bar. Im Westen wähnte er sich in Sicherheit. Seinen Konflikt mit dem FSB nahm niemand ernst. Hoffentlich wurde uns kein Polonium beigemischt.
* Pseudonym
ZEIT online
44/2007​
 
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