Auszug aus Timmerbergs Reise-ABC von Helge Timmerberg.
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G – wie Gefahr
Es geschah an einem Strand auf Bali. Sie hatten mich vor den Strömungen gewarnt, aber damit hatte ich trotzdem nicht gerechnet. Ich stand bis zu den Knien im Wasser, nicht tiefer, und plötzlich zog ein Riese an meinen Füßen, so scheiß groß wie der Ozean. Und ich kam nicht dagegen an, ich kam nicht raus, ich kam nicht mal nicht von der Stelle, ich kam ins Meer. Was soll ich sagen, volle Pulle Kraulen in Richtung Strand, in Richtung Mädels, in Richtung Leben ganz allgemein. Ich habe die Minuten nicht gezählt, vielleicht eine, vielleicht zwei, die es brauchte und schon war ich 500 Meter von all diesen Begehrlichkeiten entfernt. Dann 1000.
Die Probleme:
1. Es wird nicht lange dauern und dann sind es 2000.
2. Es wird ebenfalls nicht lange dauern und ich kann nicht mehr.
3. Was für Fische gibt es eigentlich hier?
Der Tip eines Surfers rettete mir das Leben. Ich gebe ihn hiermit weiter. Die Strömungen sind zwar mörderstark und gehen weit hinaus, aber sie sind nicht sehr breit. Falsch ist: gegen Strömungen anschwimmen. Richtig: Immer seitlich raus.
Hunde sind hier und da auch eine Gefahr. Der Hund der dritten Welt ist in der Regel nicht sonderlich groß und kräftig, aber zäh und häßlich und tritt gern in Rudeln auf. Vor allem nachts, vor allem an Stränden. Und dann steht man da vielleicht mit seiner Braut und macht auf Romantik und erst sind es zwei, drei, vier, dann fünf, dann zwanzig. Das wird nicht nur laut, das wird ungemütlich. Ok, man kann mit Steinen werfen, aber nehmen wir mal an, es handelt sich um einen paradiesischen Sandstrand, auf dem wir stehen, Sand wie Samt und Seide bedeutet keine Steine. Was dann? Ich weiß nicht, ob es weltweit so gehandhabt wird, aber die Inder machen es so: Sie gehen nachts nie ohne Spazierstock aus. Einen richtigen Spazierstock mit einem gebogenen Knauf. Greift sie ein Rudel Hunde an, halten sie den Knauf knapp über dem Boden und drehen sich im Kreis. Das bricht den Hunden die Beine. Nicht übertrieben tierlieb, gewiß, aber einer muß immer sterben, hat Hemingway gesagt.
Was mir in Harlem zu einer Zeit passierte, als New York noch gefährlich war, kann heute in jeder anderen amerikanischen Großstadt geschehen, im Grunde in jeder Metropole der Welt. Es reicht, die falsche Highway-Ausfahrt zu nehmen, oder, noch gemeiner, man hat sich im Streckenplan der Underground vertan und spaziert zu Fuß ins Ghetto.
Ich war glücklicherweise nicht allein unterwegs. Und auch nicht zufällig. Ein schwarzer ehemaliger Undercover Polizist begleitete mich durch das nächtliche Harlem der frühen 80er Jahre, und da war diese Kreuzung, so fünfzig Meter vor uns und so an die 20 junge Schwarze standen da. Es war in der Zeit, in der man noch black is beautiful und nicht afroamerican sagte. Sie standen an der linken Seite der Kreuzung, wir gingen auf der rechten Straßenseite. "Hast du mal Feuer", fragte mein Begleiter und blieb stehen.
Das ist eine Drogengang, sagte er, während wir uns Zigaretten anzündeten. Die haben Baseballschläger, Messer und Pistolen. Und die haben schlechte Laune. Wenn wir umdrehen und zurückgehen, kommen sie hinterher. Wenn wir an der Kreuzung nach rechts abbiegen, kommen sie hinterher. Wenn wir auf unserer Straßenseite geradeaus weitergehen, kommen sich auch hinterher. Es gibt nur einen Weg. Wir werden jetzt auf ihre Straßenseite wechseln und direkt auf sie zu gehen. Und direkt durch sie hindurch. Geh nicht zu langsam und nicht zu schnell. Sieh ihnen nicht in die Augen. Antworte ihnen nicht. Ok?
Es ging ok. Der Gang kam der Jagdinstinkt abhanden. Die paar Momente ihrer Konzeptlosigkeit reichten, und wir waren durch und um die nächste Ecke und damit nicht nur außer Gefahr, sondern auch in angenehmer Umgebung. Mein Begleiter brachte mich zu einem Freund, der hier wohnte. Es war ein wundervoller, alter, schwarzer Mann, und er erzählte mir den Rest der Nacht Geschichten von der Art, die man weitererzählen kann. Ich hörte ihm zu und trank sein Bier. Was ich damit sagen will?
Erfahrungsgemäß liegen die schönsten Geschichten immer hinter der Gefahr. Direkt dahinter. Aber vielleicht irre ich mich da. Vielleicht liegt es auch nur am Überleben, daß man plötzlich wieder so gerne lebt.